Mit meinem Neffen durfte ich vor kurzem bei meinen ersten Podcast mitmachen. Ein Format der „Kirche im WDR“ in Kooperation mit diversen Stellen, unter dem Namen FAMILY FATAL sollte es bei uns um die Frage des Generationswechsels gehen. Auch ganz andere Konstellationen aber wurden dort schon verhandelt, die Rolle des Vaters, die Bedeutung der Geschwister zum Beispiel. Wir beide sprachen über den Konflikt der Boomer mit seiner Altersklasse, er ist Anfang 20, der ja nun in jeder Familie eine große Bedeutung hat. Wir wollten untersuchen, wie es ist, wenn die Jüngeren Fragen stellen und nach den richtigen Antworten suchen, die Älteren wiederum aber glauben, alle Antworten zu haben und so gesehen nur die dazu passenden Fragen richtig finden. Ein Phänomen, das nicht neu ist. Aber die Alterspyramide macht die Auseinandersetzung damit dennoch dringlicher denn je.
Wer viel erlebt hat, sieht sich wohl im Recht, die gesammelten Erfahrungen als Weisheit zu interpretieren und diese dann denen mit geringeren Erfahrungen mitzuteilen. Dazu passt dann auch der keineswegs ironisch gemeinte Titel des Bestsellers „Alte Weise Männer“ von Nena Brockhaus. Von einer „Hommage“ spricht sie und befüllt damit genau das Eigenbild dieser Gruppe. Es scheinen schließlich Ergebnisse realer Verhältnisse, keine Spekulationen oder Erwartungen, mit denen diese die Welt beurteilt Damit sehen sich die, die alles schon zu kennen glauben, von vornherein denen gegenüber überlegen, die erst vor diesen Jahren ihres Lebens stehen.
„Du warst noch nie arbeiten“ hieß es schon früher, gerne wurde auch “‘‘Solange du die Füße unter dem Tisch deiner Eltern hast, solltest du“ das oder das nicht wagen, machen oder sagen. Die Überschätzung der Relevanz eigener Erkenntnisse und die weitgehende Ignoranz der Gedanken, Sorgen, Ideen der jüngeren kennt man schon immer. Neues entsteht oft aus dem Konflikt genau dieser beiden Pole: Ungestümes und Abwartendes. Denn es ist die Veränderung, die das Leben möglich macht. Dazu brauchte es nicht Darwin, um zu wissen: Wer sich nicht anpasst, nichts Neues möglich macht, sich nicht ändert, der wird chancenlos sein.
Die Frage also, die entscheidende, ist: Was genau ist zu tun? Wo setzen wir an? Was ändern wir?
An dieser Stelle kommt ein Aspekt ins Spiel, den wir im Podcast nicht erörtert haben, der uns aber in der Vorbereitung immer wieder begegnete. Die Optionen nämlich als Faktor. Denn eines zeigt ja tatsächlich jede Erfahrung: Es gibt viele Varianten, auf etwas zu reagieren, etwas zu beantworten. Und die reine Menge scheint schon so groß zu sein, dass man die Überschau darüber bereits für eine Überforderung halten darf. Und je mehr Möglichkeiten ich habe, umso schwerer wiegt die Verantwortung, die richtige, die bestmögliche, die einzig wahre zu identifizieren und dann auch umzusetzen.
Meine Eltern heirateten zu Beginn der 60er Jahre. Sie wollten beide Kinder. Das klappte irgendwann auch, keineswegs störungsfrei, muss man sagen, dennoch, innerhalb von sechs Jahren kamen drei Kinder zur Welt. Darüber nachgedacht, wann ein guter Zeitpunkt dafür wäre, wann es reinpasst in die Lebensplanung, wer wann wie Ruhephasen einlegt, sich mehr um den Nachwuchs kümmert, kam ihnen wie den allermeisten ihrer Generation nicht in den Sinn. Sie waren ein Ehepaar, Kinder gehörten dazu, das schien klar und war auch in ihrer Umgebung identisch. Es war schlicht eine gesellschaftliche Norm.
Keineswegs will ich diesen Zeiten hinterherweinen. Denn diese nicht vorhandenen Entscheidungsfragen standen selbstredend deutliche Reduzierungen ihrer Freiheit entgegen. Frauen waren nur selten erwerbstätig, die Erziehung lag zu ganz großen Teilen bei den Müttern. Die finanzielle Abhängigkeit vom eben meist männlichen Ernährer führte zur Beibehaltung von Ehen und Familien, die von Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeiten geprägt waren. Erst die Pille, der Ausbruch aus den Verhaltensbildern in der Zeit der APO und der Hippiewelt, die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen also, die 25 Jahre nach Kriegsende begannen und vieles neu definierten, veränderte die Regeln von Familie und Geschlechtsspezifika. Das war spät genug.
Fraglos also eine notwendige, überfällige und vollständig richtige Entwicklung. Sie führt aber eben auch zu einer Vermehrung von Entscheidungsnotwendigkeiten. Denn es gibt ihn nicht, den einzig richtigen Moment für dieses oder jenes. „Vom richtigen Zeitpunkt“, so hieß das Buch über die korrekte Anwendung der Mondphasen im Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen. Genau dieser aber findet sich im Alltag nicht so leicht.
Und vor allem das scheint mir der Grund dafür zu sein, dass das Durchschnittsalter der Gebärenden in 2021, ermittelt vom Bundesamt für Statistik und vor kurzem erst kommuniziert, zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte, bei über 30 Jahren lag. 30 Jahre und einen Monat, das ist der neue Durchschnittswert.
Geburten bei über 40jährigen nehmen deutlich zu. Auch wenn die Krankenkassen entsprechende Unterstützung ab diesem Lebensjahr kaum noch freimachen. Zentren zur Erfüllung von Kinderwünschen haben Hochkonjunktur, weil die Wahrscheinlichkeiten für eine Befruchtung mit steigendem Alter zurück geht. Die Natur hat die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der neuen Zeit (noch?) nicht abgebildet. Klar ist: wenn man weiß, dass es möglich ist, auch spät noch ein Kind zu bekommen, wird der mögliche Druck, es früher angehen zu müssen, geringer. Aber der Entscheidungsdruck steigt dafür in höherem Alter immer mehr. Anders gesagt: Eine weitere Steigerung der Optionsmenge entsteht, der man kaum gewachsen ist.
Optionen bedeuten erst einmal Freiheit, eindeutig. Optionen bewirken aber auch Stress durch Auswahl und Findung. Kafkas bewundernswert einfache und doch so komplexe Geschichte über die Maus, die der Wand entlangläuft, um schließlich auf die Katze zu treffen und auf die Frage, wie sie das hätte vermeiden können, nur den Ratschlag bekommt, sie hätte eben in die andere Richtung laufen müssen, zeigt es meisterhaft. Nur zwei Optionen gab es, und dennoch waren sie bereits zu viel für eine richtige Entscheidung (Wobei die Frage spannend ist, ob nicht die Entscheidung zumindest für die Katze genau richtig getroffen wurde…)
Es gibt viel mehr Eissorten als früher, aus Vanille und Schoko und Erdbeere wurden Bounty, Cheesecake oder Grüner Frosch. die Auswahl braucht also mehr Zeit. Auch das Eiscafé hat mehr zu tun, muss aufwendiger disponieren oder produzieren, mehr Schilder, mehr Behältnisse brauchts, öfter als früher muss man Wunsche abschlägig bescheiden, weil das Wunscheis gerade ausgegangen ist. Die Schlange vor der Theke ist länger. Die Versorgung wird teuer, die Lieferketten länger und komplexer. Im Grunde also eine Entwicklung, die typisch ist für viele andere der letzten Jahrzehnte. Mit dem immer gleichen Ergebnis: Entscheidungen wurden zwar unabhängiger von möglichen Reduzierungen des Angebots, aber viel schwieriger wurden sie auch.
Hat die Steigerung der Eis- Optionen die Qualität des nun Erreichten wirklich optimiert? Geht es den Eiskäufer:innen nun besser? Ist die Lebensqualität höher? Hat sich das Vergnügen gesteigert? Es ist nur ein Beispiel, und wie immer, wenn man mit Beispielen argumentiert, wird es viele geben, die anders gelagert sind. Aber tendenziell sieht man oft eine ähnliche Entwicklung: Es gibt mehr Möglichkeiten. Die aber komplexer in der Vorbereitungen sind und viel komplexere Entscheidungswege evozieren. Wir Babybommer hatten es einfacher und mussten uns in einer weniger optionalen Welt zurechtfinden. Und hin und wieder gewinne ich den Eindruck, dass die einfacheren, scheinbar klareren Gedanken und Ansätze herangezogen werden, um das zu bewerten, was die Jüngeren nun zu lösen haben.
Die jetzige junge Generation kann aber nichts mehr ignorieren. Eine 360 Grad Sicht existiert. Die Welt ist eine andere geworden, das System der Ausnutzung aller vorhandenen Quellen und die Hoffnung auf Technologie, die den Schaden schon reparieren wird, ist kaum noch vorhanden. Die Boomer wollen an ihren nur scheinbar bewährten Vorgehensweisen und Prozessen festhalten, die neuen Generationen sehen aber, dass das nicht mehr geht. Dieser Unterschied in der Bewertung von Optionen ist gewaltig und aus meiner Sicht überaus bedeutend für die jetzige Konfliktlage.
Die 30,1 haben eine große Symbolkraft. Sie stellen eine Zeitendwende dar. Sie stehen für eine der wesentlichen Unterschiede der Generationen. Es hat sich etwas geändert. Nicht nur ein wenig. Sondern etwas Fundamentales. Und es ist die zentrale Aufgabe unserer Zeit und Gesellschaft, damit umzugehen. Zuvor aber muss man das wohl benennen und anerkennen.
Das Bundesamt für Statistik bietet dazu jetzt einen geeigneten Anlass.